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Mannheimer Klangerneuerer Hans-Karsten Raecke interpretierte in Neckarhausen Heines Werk

Stephan Kraus-Vierling, Mannheimer Morgen (RN), Nr. 23 Donnerstag, 29.01.2004

Edingen-Neckarhausen. Der Künstler marschiert im Stechschritt durch den großen Saal, mal brüllt und tobt er, mal schluchzt er, jammert oder sinniert traumverloren. Dem "Grotrian-Steinweg" entlockt er die wunderlichsten Klänge, bearbeitet das Instrument mal virtuos über die mit exotischen Tonregistern belegte Tastatur, oder mit gezieltem Griff ins modifizierte Innenleben. Ja am Ende rückt er dem edlen Instrument sogar mit einer Klobürste zu Leibe! Der Mannheimer Klangneuerer Hans-Karsten Raecke begeisterte das VHS-Publikum im Schloß mit einer fulminanten Interpretation von Heinrich Heines "Deutschland, ein Wintermärchen" auf dem klangerweiterten Flügel.

"Erst wenn man vom Lachen ihrer Kunst geschüttelt wird, versteht man, dass es beide wirklich ernst meinen", so ein Kritiker-Zitat auf dem Programminfo über die Wesensverwandtschaft zwischen Heine und Raecke. Beide schrieben "mit dem notwendigen Abstand auf die eigene Substanz: der eine in Worten, der andere in Tönen". Und diese Töne entlockt Raecke dem - binnen nur eineinhalb Stunden - manipulierten Flügel in so verblüffender Vielfalt, daß der Ausdruck "klangerweitert" untertrieben scheint.

In zwölf Sektionen ist die Tastatur nach einem fein ausgeklügelten Konzept unterteilt. Links im tiefen Bass liegt die Percussion- und Rhythmusabteilung, in den mittleren Lagen dominieren dumpf blubbende Sounds wie in der balinesischen Garnelan-Musik, auch wie Tempelgongs oder Steel-Drums, daneben klingt es mal wie Glocken, mal wie der gute alte Leierkasten, und das Ganze je nach Raeckes Arrangements eher stilistisch homogen, etwa Preußens "Alten Kameraden" im Kinoorgel-Sound, oder aber in (nur scheinbar) wilden Durcheinander von Melodien, Geräuschen und Klangmalerei.

Da lässt Raecke das "Vogelnest von gefährlichen Büchern" im Kopf des Dichters so richtig zwitschern, die Tür des "Riesenkerkers im heiligen Cöllen" donnernd zuknallen oder "die Chaise im nächtlichen Walde dahin humpeln" und drum herum mit gekonnten Glissandi-Strichen über die Saiten schaurig schön "die Wölfe heulen". Mit welch einfachen Mitteln der bekannte Mannheimer Musikwerkstättler die vielen Klangeffekte erzielt, darüber konnten die Zuhörer später beim Blick in den "entdeckelten" Flügel nur ungläubig den Kopf schütteln. Da klemmen Schrauben, Korkkeile oder Stücke von Plastikschläuchen zwischen den (pro Ton ja jeweils mehrfach gespannten) Saiten.

Einige sind längs mit Klebeband verbunden. Hier wird gedämpft, dort stimmt eine simple Flügelschraube ("daher der Name", wie ein Gast schmunzelte) den Ton um, nebendran rasselt ein auf die Saiten gelegtes Metallscharnier. Kein Wunder, daß Raecke bei Veranstaltern oft einige Überzeugungsarbeit leisten muß, ehe er deren zig Tausend Euro teures Tasteninstrument so präparieren darf.

Aber er versichert: "Wenn ich das alles entfernt habe, kann man wieder Chopin drauf spielen." Nicht mal Nachstimmen sei nötig. Zwei Drittel von Heines 1844 im Zuge einer Reise nach Hamburg verfaßtem, bissig spöttischen "Wintermärchen" auf ein in ehern gehüteten Traditionen und Institutionen dümpelndes Vormärz-Deutschland hat Raecke schon vertont, den Text teilweise aktualisiert und erweitert.

Von Caput eins bis 14 sang er alles gänzlich auswendig, sehr prononciert mit urrollendem Bühnen-R, oft auch satirisch übersteigert und mit köstlichen Performance-Einlagen wie dem Verteilen eines Marzipan-Schweinskopfs im Publikum oder dem Nickerchen, gestreckt auf dem so respektlos zweckentfremdeten Flügel. Riesenbeifall am Ende, zu Recht, denn das war mal was erfrischend anderes in der kammermusikalischen VHS-Reihe.