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Weder Instrument noch Dichter entsprachen der gängigen Norm
Hans-Karsten Raecke interpretierte Heines "Wintermärchen" auf dem klangerweiterten Flügel - das Publikum erschien zahlreich und war begeistert: "Der lebt das!"

Silke Beckmann, Ladenburger Zeitung - Freitag, 24. Februar 2006

Ein außergewöhnlicher Künstler, ein ungewöhnlich präparierter Flügel und ein Versepos, das zu verlegen man nach seiner Fertigstellung zunächst gezögert hatte: dies waren die Zutaten für einen Abend, den die rund einhundert Zuhörer wohl so schnell nicht vergessen werden. Auf dem Programm stand „Deutschland, ein Wintermärchen", zu dem die Buchhandlung „Bücher am Markt" am 150. Todestag des Dichters Heinrich Heine eingeladen hatte. „Ein musikalisch-dramatischer Zyklus für Stimme und klangerweiterten Flügel" lautete der Untertitel, der aufhorchen ließ. Denn zum einen werden die wenigsten eine Vorstellung vom „klangerweiterten" Instrument gehabt haben, zum anderen hat bisher niemand die Gesamtvertonung des Heine'schen Wintermärchens riskiert - keiner bis auf Hans-Karsten Raecke. Der waschechte Mecklenburger, einst Uni-Dozent im Bereich Musikwissenschaft, den Konzertreisen bis in die USA führten, gründete 1974 die Berliner, 1991 die Mannheimer Klangwerkstatt. An diesem Abend agierte er gleichermaßen als Komponist, Sänger, Darsteller und Pianist. Warum aber gerade das Wintermärchen? „Ich fand es schon in der Schule faszinierend", erklärte Raecke seinem Publikum zu Anfang. Vor fünf Jahren habe er den Schlüssel zur Gesamtvertonung gefunden - bis dahin gab es noch keine, denn dieses Werk sei nicht nur sehr sperrig, es gelte auch die Momente der Satire hineinzubringen. Heine, „Vollblutromantiker" und bissiger Spötter zugleich, könne man nicht mit 12-Ton-Musik gerecht werden. Den Facettenreichtum, fernab von romantischer Vertonung, erzeugt Raecke mit Hilfe des präparierten Klaviers. So unterschied sich das Innenleben des rathauseigenen Steinway-Flügels an diesem Abend doch recht augenfällig von seinem sonstigen Zustand: Zwischen den Saiten befand sich ein kleines Sammelsurium als dem Baumarkt: Schrauben, Gummi, Kork- und Plastikstücke und Scharniere. Die Anordnung ist wohl durchdacht: „Jedes Schräubchen hat seinen Platz", schmunzelte der Künstler. Dieses Präparationssystem erzeugt 12 Klanggruppen, die vom Klavierklang bis zu reinen Geräusch reichen und ein Spektrum von balinesischer Garnelan-Musik über Tempelblöcke und Kirchenglocken bis hin zu Leierkasten erlauben. Mittels Gassenhauern, Tango, Märschen, parodistischen Momenten und Aktionen interpretierte Raecke das 1844 erschienene Werk, das er mittels eigener Einschübe sogar gelegentlich aktualisierte: „Ich spürte, daß ich das machen sollte". Ein bißchen Vorausnahme dessen, „was Heine zu den heutigen politischen Zuständen sagen würde". Und los ging's: „Im traurigen Monat November war's..." Auf Heines mit tragischem Humor geschilderter Deutschlandreise von Aachen über Köln, den Teutoburger Wald und Hannover bis nach Hamburg, wo ihm Schutzgöttin Hammonia in der Traumbegegnung einen Blick in die Zukunft gewährte, ackerte Raecke auf den Tasten, verlieh den Zeilen eine ungeahnte Lebendigkeit und erzeugte dabei derart mitreißende Klangfolgen, daß das Wintermärchen gleichsam als musikalisches Schauspiel zu erleben war. Erstaunlich nicht nur, was in so einem präparierten Instrument steckt, sondern auch, wie Raecke das Epos klangmalerisch interpretierte.

Zwischendurch ließ er gar seinen Schuh auf der Tastatur spazieren, zerteilte fein säuberlich einen Marzipanschweinskopf („ein perfides typisch deutsches Attentat"), bettete sich gar auf dem Flügel kurz zur Ruhe oder brachte die Saiten mit Klobürste oder Gartengeräten zum Schwingen - das Auge hörte quasi mit. Dazu Raeckes angenehme Stimme, mal schneidend leise, mal raumgreifend - das Publikum war schwer angetan und spendete begeisterten Szenenapplaus - ,Sagenhaft!" - „Fantastisch", war aus den Reihen zu vernehmen, und Gudrun Schön-Stoll, die nach der Veranstaltung „auf Wolke sieben schwebte", brachte es auf den Punkt: „Der lebt das!" Raecke habe es geschafft, den einst trocken anmutenden Schulstoff zum wahren Erlebnis werden zu lassen.